Am 21. Juni 2020 fand die Uraufführung von Lera Auerbachs Streichquartett Nr.9 „Danksagung“ im Gewandhaus Leipzig statt. Das Artemis Quartett koppelte die Aufführung im Programm an das Streichquartett op. 132 von L. van Beethoven, dessen berühmter 3. Satz („Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit in lydischer Tonart“) die konzeptionelle Grundlage für Auerbachs Werk darstellt.
Der Zusammenhang zwischen Leipzig, Beethoven und Auerbach ist verzweigt: den Leipzigern dürfte noch die Aufführung des „Fidelios“ in der Inszenierung von Christine Mielitz (1989) im Gedächtnis sein. Auch Auerbach hatte mit ihrem „Russischen Requiem“(2007) den Opfern der Unterdrückung und der Repressionen verschiedener Zeiten ein Denkmal gesetzt. Ein paar Jahre später ergab sich mit der Inszenierung der Oper „Gogol“ (Theater an der Wien 2011) durch Mielitz aber ein neuer Ansatz: Auerbachs „Gogol“ handelte nunmehr von dem ukrainisch-russischen Schriftsteller als einem Seelengefangenen.[i]
Amerikanische Kulturhistoriker wie Carl E. Schorske und George Kubler haben die Abwendung von politischem Aktionismus und überlieferter Formensprache in der modernen Kunst und Musik einst kontextuell und soziologisch begründet.[ii]
Beethovens Enttäuschungen bezüglich der Resultate der Französischen Revolution (nicht aber ihrer Ideale) waren spätestens bei der Umbenennung seiner dritten Symphonie „Eroica“ augenscheinlich geworden. Die Widmung auf der ersten Seite der für den Druck bestimmten Kopie der Partitur („Bonaparte“) riss er aus.[iii] Den zweiten Satz betitelte er schließlich in einem persönlichen Exemplar der Partitur mit dem Untertitel „Trauermarsch auf den Tod eines Helden“.[iv]
Die zeitgenössische Künstlerin Lera Auerbach (*1973) bezeichnete sich mit vergleichbarer Offenheit schon immer als komponierende Eremitin, die das Potenzial des Rückzugs zu ihrem persönlichen, kreativen Credo gemacht hat. Die innere Emigration in die Abgeschiedenheit sei ein notwendiger, inspirierender daimon, der den kreativen Prozess stets begleite.[v]
In diesem Beitrag möchte ich dieser Thematik, der Suche nach neuen Ausdrucksmitteln in der Musik aufgrund kontextueller Faktoren in den beiden vom Artemis Quartett in Leipzig dargebotenen Quartetten nachgehen und anhand der religiös-spirituellen, der kommunikativen (bzw. konzeptionellen) und der biografisch-persönlichen Ebene miteinander vergleichen.
- Beethovens „Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit“ (3. Satz, Streichquartett a-moll, op. 132) als kommunikatives Kunstwerk (1825)
Beethoven schrieb seinen Streichquartett -Satz aus Anlass einer überstandenen schweren Darm-Erkrankung, von der der Bonner Komponist zwischen April und Mai 1825 heimgesucht wurde und die die Vollendung des Quartetts verzögerte.
Wenige Jahre vor seinem Tod (1827) verfasst, ist Beethovens Streichquartett op. 132 somit einzuordnen in eine Reihe von Kunstwerken, die man als „Votiv“-Werke bezeichnen kann. Die Wiener Karlskirche, die dem hl. Karl Borromäus gewidmet ist, ist aus Dank vor einer überstandenen Epidemie (1714) errichtet worden. Beethoven fügte also den Denkmälern, die in Wien bereits im Angesicht von Grenzerfahrungen geschaffen worden waren, ein persönliches Monument hinzu. Die „Gottheit“, die den erkrankten Komponisten gesunden ließ, beließ dieser jedoch anonym (in Auerbachs Sinn könnte man sagen, dass Beethoven seinem persönlichen Schutzgeist oder gutem Dämon mit einem Quartett dankte).
Ein weiterer Anknüpfungspunkt mit dem eingangs umrissenen Thema ergibt sich aus der biografischen Entstehungsgeschichte. Beethovens Streichquartett op. 132 steht in einem unmittelbaren Entstehungszusammenhang mit der Komposition seiner letzten fünf Streichquartette, die durch ihre radikale Tonsprache und ihre formalen Neuerungen auffallen und die für den zeitgenössische Zuhörer einem Schock gleichkamen.
Die zeitgenössische Presse bemerkte, dass Beethoven erneut mit den Konventionen des „guten Geschmacks“ und den anerkannten Regeln der Kunst gebrochen habe. Die Leipziger „Allgemeine musikalische Zeitung“ drückte dieses Befremden beispielsweise aus, indem sie der Großen Fuge B-Dur (op. 130) attestierte, sie klinge „chinesisch“. Die Bezeichnung „chinesisch“ bedeutete nichts anderes als dass „fremde“ Konzepte in den deutschsprachigen Kulturbereich eingebrochen waren und sie erinnert an die, gegen die Modernen und Intellektuellen von 1900 gerichtete, Polemik.[vi] Immerhin wurde dem Quartett op. 132 zugesprochen, dass es den Hörgewohnheiten seiner Zeit weit voraus sei und dass die Modernität des Werks erst von der nachgeborenen Generation gewürdigt werden könnte.[vii]
Die stilistische Modernität des dritten Satzes, die auch in der Wahl des lydischen Modus begründet liegt und eine geradezu ausufernde, variantenreiche Struktur hat, kann aber auch als Ausdruck einer inneren Einstellung Beethovens bezeichnet werden. Während sich die Abkehr Beethovens von politischen wie ästhetisch-formalen Ikonen bereits in den frühen 1800er Jahren abzeichnete war dies noch ein trotziges Manifest der Enttäuschung über „unerfüllt gebliebene Ideale“ eines jungen Mannes. Als Beethoven sein späteres Streichquartett komponierte, war die Einheit von Kirche und Staat längst in Stein gemeißelt: der Wiener Kongress (1819) stellte nämlich die Verfassung des Deutschen Bundes auf ein christlich monotheistisches Fundament, Intellektuellen und Künstlern wurde die Publikation ihrer Werke durch die Zensur erschwert, die Emanzipation der Juden wurde partiell zurückgenommen.
Beethoven selbst mochte sein Unbehagen an diesen Zuständen vielleicht erneut durch die Widmung unterstrichen haben, denn er dankte nicht „dem“ Gott (der Kirchen), sondern einer nicht näher spezifizierten „Gottheit“. Unter „Gottheit“ war eine aus den altorientalischen Kulturen stammende, allumfassende Vision der Präsenz des einen Gottes zu verstehen, die Raum und Zeit sprengt (Beethoven hatte den Satz „Ich bin, was da ist” über seinem Schreibtisch angebracht; diese, laut einem Biografen aus der altägyptischen Kultur stammende Sentenz entspricht genau der Offenbarung Gottes am Dornenbusch in Ex. 3,14: „Ich bin, der ich bin“ oder: „Ich bin alles, was da sein wird“).[viii] Zugleich, die belegt ein Blick in einschlägige zeitgenössische Wörterbücher, kann der Begriff „Gottheit“ als personalisierte Gottheit verstanden werden, im Sinne eines „guten Hausgeistes“. Er entsprach jedenfalls keinem wie auch immer gearteten „Stammes-„ oder Nationalgott.[ix]
Eine personalisierte Gottheit zu haben, die den erkrankten Komponisten schützt: dies vertrug sich natürlich durchaus mit gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit. Sowohl Beethovens kosmopolitische Förderer als auch sein Publikum fanden bei aller Scheu vor ungewohnten Klängen auch großes Wohlgefallen an diesen. Die Rezeption war hier und dort verhalten und kühl, keineswegs jedoch feindselig.
- Lera Auerbachs Streichquartett Nr. 9 „Danksagung“ (2019/20) als „konzeptionelles Kunstwerk“
Die Erkrankung Beethovens im Jahre 1825 war laut Auerbachs künstlerischer Stellungnahme ein erster wichtiger „gemeinsamer Nenner“, einen Gesprächsfaden mit Beethoven zu beginnen, denn auch Auerbach war zum Zeitpunkt der Niederschrift ans Bett gefesselt:
„The concept of structuring my quartet upon Heiliger Dankgesang came during a prolonged illness; perhaps this was the reason why this particular quartet of Beethoven resonated with me and generated further ideas.”[x]
Wichtiger aber noch als dieses war für Auerbach die ironische Hinterfragung von gesellschaftlicher Heldenverehrung in der Kunst von heute. Ähnlich wie im Falle Gogols (einen Schriftsteller, der in Russland als einer der Väter der modernen russischen Literatur gilt und den Auerbach in ihrer Oper biografisch-psychologisch sezierte), legte die Künstlerin vor dem großen Jubiläumsjahr den Finger in das Problem einer kulturellen, d.h. durch den spezifischen gesellschaftlichen Spiegel gesehenen und daher auch leicht missbräuchlich verwendeten Ikone Beethoven.
In einem Interview zu Rudolf Buchbinders wichtigem neuem „Diabelli-Projekt“ etwa äußerte sich Auerbach unverhohlen skeptisch zu dem zu erwarteten musikalischem Kult von 2020, von dem wir alle verfolgt würden.[xi] Auerbach plädierte stattdessen dafür, durch das dichte Netz der erwarteten öffentlichen Heldenfeiern auf den Kern der individuellen, widersprüchlichen Persönlichkeit Beethovens zu gelangen.
In einem jüngst verfassten Manuskript Auerbachs heißt es hierzu noch näher:
„The truth is that I do not know how I feel about Beethoven. There seem to be two separate things – one is Beethoven, the other one is our perception of Beethoven, and the second is so thick that through it – it’s impossible to find real Beethoven.
Just try to move the world’s admiration for Beethoven aside – what will you see in its place? The admiration seems to be made of bronze: it can take any patina or color, yet it is so heavy it cannot be lifted or moved; it seems to forever replace Beethoven.”[xii]
Ganz bewusst wählte Auerbach ein Stück aus, das als Gegenbild zur Tendenz eines heroisierenden Beethoven-Mythos im Beethoven-Jahr stehen sollte und sie konnte sich – wie die einleitenden Seiten zeigen sollten – durchaus auf den Widerwillen berufen, den Beethoven selbst als Zeitgenosse der Französischen Revolution und ihrer Tendenz der Heroisierung in der Kunst empfunden haben mochte.
Die Überlegungen einer biografisch-kommunikativen Vernetzung mit dem Beethoven seiner Zeit enthält darüber hinaus eine gute Dosis Selbst-Reflexion über die Bedeutung von Auerbachs künstlerischer Konzeption selbst.
Auerbachs Quartett Nr. 9 kann als ein Werk konzeptioneller Kunst bezeichnet werden, das den Akzent nicht auf die ästhetische Gestaltung ausschließlich legt, sondern auch darauf, welche Reaktionen ihr Werk in der Öffentlichkeit provozieren mag, die es auf Großfeiern abgesehen hat.
Konzeptionelle Kunst beinhaltet, wie z.B. in J. Kosuths „One and three chairs“ (1965) dargestellt, eine reflektierte Beziehung zu Publikum und Öffentlichkeit und zum anerkannten Kunst-Kanon, sie stellt also eine Reflexion über die Historie der Rezeption dar.[xiii] Anders als die Zeitgenossen des späteren Beethovens steht die Kunst des 21. Jahrhunderts somit nicht allein vor dem Dilemma der Auseinandersetzung mit einer widerspenstigen Zeit und politischem Klima. In der abstrakteren Kunst soll auch die Auseinandersetzung mit dem Widerstand eines über die Zeit und Epochen rezipierenden Publikums stattfinden, das nicht dazu bereit ist, tradierte Hörgewohnheiten über den Haufen zu werfen.
Diese reflektierende Vorgehensweise und der dreifache, verschränkte Bezug zwischen Kunstwerk, kompositorischem Vorbild und Öffentlichkeit waren bereits in den Werken der Wiener Generation von 1900 erkennbar.
Ein Paradebeispiel dafür ist das berühmte „Beethoven-Fries“ (1902) von Gustav Klimt. Das Fries enthält lediglich die Andeutung, bzw. einen Fingerzeig auf Beethoven: dieser erscheint vermittelt über Max Klingers Beethoven-Statue, die das Zentrum der Ausstellung von 1902 bildete (sie steht heute wieder in Leipzig); neben dem ephemeren Charakter der Statue eines im Grunde nicht präsenten Beethoven bezeugte die bildhafte Illustration der „Ode an die Freude“ im Fries selbst, dass das Verständnis Beethovens bzw. die assoziierte utopische Verheißung an unüberwindliche Hindernisse geknüpft ist. Für Klimt waren dies offenkundig in erster Linie die menschlichen Affekte, die den Weg zum geeinigten Menschentum verstellten.[xiv] Jahre später sollten sich Klimts Alptraum noch grauenhafter als richtig erweisen, als nämlich das Werk dem Kunstraub der Faschisten zum Opfer fiel.
In ihrem Klavierstück „Ludwigs Alptraum“ (2007) hat Auerbach eine solche Zuspitzung im Hinblick auf die Publikums-Rezeption des frühen 21. Jahrhunderts vorgelegt. Wie für die Komponistin typisch, verpackte sie die bedeutungsschwere Auseinandersetzung mit „der Kultur“ (der Begriff selbst ist eine Konstruktion) in ein virtuoses Kabinettstück, das die Brüche in den Versuchen der Umsetzung politischer Utopien umschreiben mag. Alle Menschen werden Brüder? Dies ist nur eine Traum-Assoziation, zwischen Traum und Wirklichkeit steht die widerständige Psyche oder Verfassung des Menschen.[xv]
Noch deutlicher wurde Auerbach jedoch im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten im Beethoven-Jahr. In ihren eigenen Darlegungen zum 9. Streichquartett deutete Auerbach darauf hin, dass wir unsere Feste „auf dem Rücken“ zerstörter Ethnien feiern. Erst im Nachhinein sei ihr klar geworden, so Auerbach, dass sie die erste Skizze des Quartetts am letzten Donnerstag des Novembers 2019 in Wien verfasste, also dem (amerikanischen) „Thanksgiving“, einem Festtag, der dazu prädestiniert sei, die Spuren der Zerstörung aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen und der – paradoxerweise – ein Fest ist, der die gesamte amerikanische Gesellschaft einigt, weil es keiner spezifischen Denomination gewidmet ist.[xvi] Auerbach befasste sich also, als sie sich an die Niederschrift des Streichquartetts machte, mit einer Historie der Rezeption: unsere Zeit ist nicht besser als die Zeit Klimts und Beethovens.
In formaler Hinsicht hat Auerbach diese radikale Botschaft durch eine Mischung aus einer De- und Rekonstruktion der Stimmenführung in Beethovens „Dankgesang“ erreicht: Auerbach behält in ihrem Quartett die von Beethoven stammende Struktur vollständig bei (A-B-A1-B2-A1: hier wechselt sich ein kontemplatives Motiv mit einem zweiten, tänzerischen Motiv ab, das die neue Kraft des Genesenden symbolisiert). Sie belässt allerdings jeweils nur eine der Beethoven stammenden originalen Stimmen intakt. Begleitet (und überwölbt) wird diese Linie von den drei übrigen Stimmen des Quartetts, die ihrerseits einen eigenen musikalischen Part bilden. Nur zu Beginn und in den allerletzten Takten enthält das Quartett ausschließlich originär Auerbachsches Material, was als eine weitere „ikonoklastische Geste“ gedeutet werden kann.
Die Künstlerin dekonstruierte somit die Gestalt des dritten Satzes des a-moll -Quartetts op. 132, um aus dem „Dankgesang“ ein neues musikalisches Gebäude zu bilden, dessen architektonische Grundlage für den Zuhörer nicht direkt wahrnehmbar, aber gleichsam noch präsent ist.
Auf der kommunikativen Ebene ist diese Vorgehensweise arbiträr interpretierbar, jedenfalls gibt es keine eindeutige Botschaft: sie deutet auf die Verwandlungsfähigkeit von Beethoven – seine mögliche, auch durchaus gewaltsame, “Re-kontextualisierung” durch seine Zeitgenossen wie auch unserer. Genauso wichtig aber ist die Betonung der (zeitlosen) Gültigkeit von Beethovens musikalischer Semantik. In diesem Punkt sind Auerbachs Intentionen vergleichbar mit der (mehrfach) entfernten Präsenz Beethovens in Klimts Beethoven-Fries. Beethovens „Präsenz“ ist ebenso abstrakt (als Statue und als Text, die Ode an die Freude ist nur noch Traumsequenz) wie das im lydischen Modus gehaltene thematische Material Beethovens in Auerbachs Quartett: unhörbar aber doch in fließender Gleichzeitigkeit.
Diese Reflexion über eine „fließende Gleichzeitigkeit“ bei Beethoven und Auerbach kann auch am religiös-spirituellen Aspekt demonstriert werden:
Das 9. Streichquartett entstand nur Wochen nach der österreichischen Premiere von Auerbachs opus magnum „72 Angels – in splendore lucis“ und „Goetia In umbra lucis“ beim Festival Wien Modern am 17. November 2019 in der Wiener Minoritenkirche.
In diesem Doppelwerk gab Auerbach, vergleichbar mit Beethoven, einer radikal neuen, bekenntnishaften Darstellung der Religionen Raum. So griff Auerbach – ganz im Sinne der jüdischen Aufklärung – in ihren „72 Angels“ auf die Idee der mystischen Allmacht des einen Gottes zurück (die 72 Engelsnamen sind eine Vertonung der 72 Namen Gottes, die nach der Kabbala jeweils nur eine Variante des aus vier Buchstaben bestehenden Gottesnamens ist); zweitens können die 72 Engel (sowie ihr Gegenstück, die Dämonen, die den Grimoires des 17. Jahrhunderts entnommen sind) ähnlich der anonymen Gottheit in Beethovens Streichquartett op. 132 auch als persönliche Schutzgeister verstanden werden (und „persönlich“ bedeutet für Auerbach immer auch das Ende der Kommunizierbarkeit durch Sprache und der üblichen musikalischen Formensprache).[xvii] Drittens exemplifiziert die Komponistin durch die Verwendung der natürlichen Obertonreihen im „Amen“ der 72 Engel den Bruch mit dem als „künstlich“ verstandenen wohltemperierten harmonischen Tonsystem. Trotz der unmissverständlichen Zahlensymbolik (es gibt 24 Nummern, die Zahl 72 entspricht demnach 3x 24) lehnte sich Auerbach an die Naturtonreihen, nicht an die Idee des wohltemperierten Tonsystems an.
Auerbach sprengte somit die üblichen Spielregeln der politisch-religiösen Tendenz zur Idolatrie und schwächte das Gewicht der traditionellen westlichen Tonsprachen durch die Verwendung einer ursprünglicheren Musik ab. Die Wahl der Naturtonreihen im „Amen“ der 72 Engel kann mit der Wahl der lydischen Tonart in Beethovens Werk verglichen werden, da das lydische F die Erwartung der parallelen Dur-Tonart (C-Dur) im Streichquartett Beethovens enttäuscht.
Wie die späten Quartette Beethovens, handelt es sich bei diesen Werken Auerbachs um Amulette, die vor den bösen Geistern eines semantischen Missverständnisses schützen können.
- Zusammenfassung:
Auerbachs 9. Streichquartett kann als ein konzeptionelles Werk zeitgenössischer Komposition betrachtet werden, das nicht eindeutig interpretierbar ist, das jedoch kommunikative Zusammenhänge beinhaltet, die ich erläutern wollte.
- Vergleichbar mit Josef Kosuth oder Gustav Klimt hat Auerbach ein Kunstwerk sui generis geschaffen, das überdies noch einen reflektierten Zusammenhang zur Historie und zur Rezeption der Kunst enthält. In diesem konkreten Fall hat Lera Auerbach sich mit der, über die Zeiten hinweg gleich bleibenden Beethoven-Verehrung befasst und diese Verehrung in einen Kontext gestellt, der die Problematik des Beethoven-Kults heute thematisiert:
“After the extremes of romanticism, distortions and distractions of the 20th century, and the confusion of the 21st century, my initial reaction is to question and doubt everything. Perhaps, when one is or considers himself (as it was with Beethoven) mortally ill, the gratitude addressed is not towards the future which might be too brief, but towards the past with its memories of the life lived? Perhaps such thankfulness carries the sweet sadness of acceptance?“[xviii]
- Die formelle Vorgehensweise entspricht einer De- und Rekontextualisierung des in der lydischen Tonart gehaltenen Satzes aus Beethovens Streichquartett op. 132. Man könnte sagen: Auerbach hat aus den sterblichen Überresten oder der DNA des „heiligen Dankgesangs“ eine Rekonstruktion geschaffen, die äußerlich scheinbar neu ist, dessen historisch-diachrones Röntgenbild jedoch dieselbe physische Gestalt bzw. dasselbe „Skelett“ zum Vorschein bringt.
- Vergleichbar mit Ludwig van Beethoven hat Lera Auerbach in diesem und anderen Werken formelle Neuerungen eingeführt, die den Zuhörer zwingen, sich mit dem „geheiligten“ Kanon und den Zustand seiner Zeit auseinanderzusetzen. Dies ist eine ikonoklastische Geste, die in etwa einem performativem Akt entspricht, als würde ein Künstler sich die problematische Rekontextualisierung oder Aneignung eines Klassikers (wie z.B. Leonard Cohens „Hallelujah“ auf amerikanischen Parteitagen der jüngsten Vergangenheit) vornehmen und stillschweigend auf die krasse kontextuelle Entfremdung
Diese Konfrontation schafft jedoch vielleicht auch Möglichkeiten dafür, Verdecktes neu zu entdecken. Die unbewältigten Konflikte unserer krisengeschüttelten Zeit, aber auch die programmatische Kraft von musikalischen Meisterwerken der Klassik und der Gegenwart mag für den Zuhörer eine Chance zu einem Neuanfang sein, in dem die „Trikolore“ Kunstwerk, Publikum und Rezeption vielleicht eine neue Chance erhalten werden.
[ii] Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle (Frankfurt am Main 1982); George Kubler: The shape of time: Remarks on the History of Things (New Haven, 1962).
[iii] Es handelt sich um ein Exemplar, das an den Leipziger Verleger Simrock adressiert war. Jan Cayers: Beethoven. Der einsame Revolutionär (München 2017), S.328.
[iv] Ebenda, S. 333-34.
[v] Lera Auerbach: Excess of being. Aphorisms (Philadelphia 2015).
[vi] Das Beethoven Handbuch Band 3 Beethovens Kammermusik (Lilienthal bei Bremen 2014), S.200; Dietz Bering: Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfworts. (Stuttgart 1982).
[vii] Beethoven Handbuch Band 3, S. S. 197.
[viii] Über Beethovens Interesse am Altorientalismus und Weltreligionen vgl. J. Caeyers: Beethoven, S. 583.
[ix] Vgl. mit Joh. Chr. Adelungs Kompendium: https://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/online/angebot
[x] https://auerbach.center/2020/08/22/streichquartett-nummer-9-danksagung/
[xi] https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/wdr3-tonart/audio-lera-auerbach-ueber-ihren-diabellical-waltz-100.html
[xii] Lera Auerbach: Nowhere is nowhere (Stand von Juli 2020). Unveröffentlichtes Manuskript, S. 10.
[xiii] https://de.wikipedia.org/wiki/One_and_Three_Chairs
[xiv] Carl E. Schorske: Wien. Geit und Gesellschaft, S. 240-50.
[xv]https://www.sikorski.de/661/en/0/a/0/3532_ludwigs_alptraum_for_piano.html
[xvi] https://auerbach.center/2020/08/22/streichquartett-nummer-9-danksagung/
[xvii] https://auerbach.center/musical-works/72angels/
[xviii] Wie Fußnote X.
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